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Annäherung & Rückzug

Februar 2021

Das grundlegendste Prinzip im Umgang mit Pferden

Als ich vor vielen Jahren meine Freiarbeit mit Pferden immer weiter vertieft habe, ist mir die elementare und allgegenwärtige Bedeutung dieses Prinzips noch bewusster geworden. Und mir wurde klar, dass man es für alle Einwirkungen auf das Pferd und alle Situationen, in die man ein Pferd bringt, bewusst anwenden kann. Und es mit dem Bild der Anwendung dieses Prinzips besser gelingt, gutes Timing, dem Pferd logische Bestätigung und Motivation zu geben und man kann sich darüber sehr gut im Gefühl, sowie in der Wahrnehmung für die Kommunikation mit dem Pferd schulen.

Annäherung und Rückzug gibt es körperlich, ortsbezogen, in der Hilfenpositionierung, in der Dosierung von Energie und Druck und ebenfalls in der Beziehungsarbeit.

​Beim Aufeinandertreffen mit einem Pferd beginnt es immer mit einer körperlichen Annäherung. Bei jeder Annäherung wird das Pferd einer Form von Energie bzw. Druck ausgesetzt, selbst, wenn ich scheinbar gar nichts von meinem Pferd möchte. Ich betrete jedoch seinen individuellen Raum und Wahrnehmungsbereich. Als Fluchttier ist es von Natur aus immer darauf bedacht und rechnet damit, reagieren zu müssen. Selbst ein Streicheln wollen kann eine Form von Druck sein. Es ist ein eigennütziger Wille, das Pferd soll sich streicheln lassen und damit eine Fremdbestimmung und eventuell eine Störung in der Situation, in der sich das Pferd gerade befindet. Somit wird das Pferd reagieren, es kann auch mit gezielter Ignoranz reagieren, auf jeden Fall ist es eine Reaktion bzw. ein Gedanke. Wenn ich als Mensch nun den Druck wegnehme bzw. wieder auf Rückzug gehe, dann fühlt sich das Pferd für seinen Gedanken oder seine Reaktion bestätigt, denn es liebt den Rückzug, dass Nichts mehr wollen, den Druck wegnehmen, dann hat es für sich verstanden mit der Situation umzugehen. Jede Form von Annäherung provoziert eine Reaktion und jede Form von Rückzug bestätigt diese Reaktion und sagt dem Pferd, Du hast es richtig gemacht.

​So lernt ein Pferd alles Mögliche, egal ob uns unsere Annäherungs-Rückzug-Aktionen bewusst sind oder nicht. Das Pferd orientiert sich daran so stark, dass es sich damit sehr stark seine Handlungsmuster gestaltet.

4 praktische Beispiele:

1) Der Mensch streckt die Hand aus, um das Pferd am Kopf zu streicheln. Dies ist eine Annäherung an den Kopf des Pferdes mit der Hand. Dreht das Pferd nun den Kopf weg und der Mensch beendet den Versuch, das Pferd zu streicheln bzw. nimmt er nun die Hand aus der Kopfzone (dem Raum rund um den Kopf), dies ist ein Rückzug, merkt sich das Pferd dieses Bild und die Aktion Kopfwegdrehen, wenn der Mensch die Hand zu seinem Kopf streckt. Das Kopfwegdrehen ist auch noch der Anfang vom Weglaufen, d.h. ich bringe dem Pferd damit sogar bei, sich fürs Wegrennen bereit zu machen und fördere dadurch den Fluchtinstinkt oder das Dominanzverhalten. Eine bessere Lösung wäre, der Mensch behält die Hand nahe des Kopfes, bis das Pferd den Kopf wieder herdreht und nimmt sie dann weg, eventuell auch ohne streicheln. Somit kann man auch respektieren, wenn ein Pferd sich nicht streicheln lassen will, ich sollte aber dennoch nicht Kopfwegdrehen und damit den Gedanken ans Weglaufen fördern. Sehr oft passiert Ähnliches beim Geben einer Wurmkur oder bei dem Versuch, die Ohren des Pferdes zu berühren.

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2) In der Freiarbeit nutzen wir in unserem Konzept Annäherung und Rückzug, um einen natürlichen Willen des Pferdes, dem Menschen zu folgen, auszulösen. Wir nähern uns dem Pferd mit "raumeinnehmendem Druck" an, also mit der Idee, dass das Pferd weichen soll, meist erstmal Richtung Hinterhand und machen uns aus der Entfernung entsprechend bemerkbar. Das Pferd reagiert dann meist entweder mit Weglaufen oder mit Hinterhandwegdrehen. Dreht es die Hinterhand weg und die Nase in unsere Richtung, gehen wir sofort auf Rückzug und überlassen dem Pferd die Entscheidung zu folgen oder nicht, bestätigen damit aber auf jeden Fall den Gedanken in unsere Richtung. Läuft das Pferd ins Vorwärts weg, schneiden wir ihm den Weg ab, wenn es dabei die Nase zu uns dreht, machen wir das Gleiche, wie oben beschrieben. Die Aktionen wiederholen wir so lange, bis sich die Gedanken des Pferdes zu uns hin so verstärkt haben, dass es sich zum stetigen Folgen entscheidet. Das Pferd antwortet dann auf unseren Rückzug mit Annäherung.

3) Das Annäherungs-Rückzug-Prinzip gilt auch für die Reiterhilfen, wie z.B. Schenkeleinsatz. Fordere ich mein Pferd mit dem Schenkel zum Seitwärts weichen auf, komme ich mit dem Schenkel näher (Annäherung), es entsteht ein Berührungsdruck, den ich sofort wieder reduzieren bzw. wegnehmen sollte (Rückzug), wenn das Pferd dem Schenkel weicht. Möchte ich dann noch weitere Schritte, muss ich dieses Annäherungs-Rückzug-Spiel mit dem Schenkel einfach wiederholen. Dann wird mein Pferd sich merken, dem Schenkel nachzugeben. Gehe ich mit dem Schenkel auf Rückzug, wenn es sich dagegen lehnt, wird es sich das Dagegenlehnen merken und wenn es ungünstig läuft, diese Idee vielleicht noch steigern, was zu einem spannigen Pferd und eventuell sogar zu beißen und treten nach dem Schenkel oder zu bocken führen kann. ​

4) Eine typisch ungewollte und gleichzeitig sehr ungünstige Konditionierung begegnet mir sehr oft bei sogenannten "Problem"-Pferden. Viele Reiter nehmen schnell den treibenden Druck weg (entweder den Schenkeldruck oder das Touchieren der Gerte), wenn das Pferd darauf klemmt, die Hinterhand hebt oder sogar bockt. Da der Aufbau des Treibens eine Annäherung ist und das Wegnehmen ein Rückzug, muss das Pferd zwangsläufig denken, dass es alles richtigmacht. Ist dies dann schon sehr oft wiederholt worden, werden Pferde meistens sehr heftig, da sie glauben, alles richtig zu machen und nicht mehr so gut verstehen können, warum es keinen Rückzug der Reiterhilfen gibt, wenn sie z.B. bocken und jemand versucht dann dran zu bleiben, um erst auf Rückzug zu gehen, wenn sich das Pferd ins Vorwärts löst. Meist sind solche Abwehrreaktionen des Pferdes zunächst nur natürliche Gegendruck- und Schutzreflexe und die Suche nach der Lösung, dann meist durch die falsche Annäherungs-Rückzugs-Konditionierung zusätzlich verstärkte und damit angelernte Reaktionen. ​

Das Prinzip von Annäherung und Rückzug sollte uns stets bewusst sein und wir sollten damit sehr gezielt und präzise umgehen, denn es ist in der Wahrnehmung des Pferdes jederzeit präsent und aktiv. Pferde wollen von Natur immer alles richtig machen, d.h. sie wollen gut aus Situationen herauskommen und orientieren sich dazu an diesem eigentlich so einfachen und so grundehrlichen Prinzip. ​

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Weiterhin bauen sehr viele Leitsätze und weitere Trainingsprinzipien darauf auf, wie z.B. "Das Pferd lernt durch das Wegnehmen von Druck", "Das Pferd tut alles dafür, Druck loszuwerden", "Mach dem Pferd das Unerwünschte unbequem und das Gewünschte bequem", "Du musst loslassen können, um Dein Pferd zwanglos zu arbeiten", "So wenig Druck wie möglich und so viel wie nötig", "Warte auf Dein Pferd, bis es die Lösung findet", "Wenn das Pferd noch nicht die richtige Antwort gibt, bleib dran", "Leichtigkeit entsteht durch das Aussetzen der Hilfen", "Gutes Timing bedeutet, im richtigen Moment aufzuhören", "Die Kommunikation eines Pferdes besteht auf dem Ausüben und Wegnehmen von Druck und Energie". Die Funktion von Annäherung und Rückzug ist für all diese Aussagen die Grundlage.

Ich wünsche Euch viel Spaß und Erfolg bei der Erfahrung und Wiederentdeckung dieses so genialen natürlichen Lern- und Handlungsprinzips. ​

Euer Thomas Günther von pro ride HORSEMANSHIP

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